Ein Parallelimport von Arzneimitteln liegt vor, wenn ein in einem EU-Land zugelassenes Arzneimittel in ein anderes EU-Land eingeführt und dort verkauft wird, ohne dass der Originalhersteller selbst daran beteiligt ist.
Dies ist möglich, wenn das Präparat in beiden Ländern zugelassen ist. Der Importeur passt häufig die Verpackung und die Kennzeichnung an, um den nationalen Vorschriften zu entsprechen.
Der Hauptgrund für Parallelimporte ist die Preisdifferenz (sog. Arbitrage-Geschäft) zwischen verschiedenen Ländern. Arzneimittel sind in manchen EU-Staaten günstiger als in anderen, oft aufgrund von staatlicher Preisregulierung. Parallelimporteure nutzen diese Preisunterschiede, um Arzneimittel günstiger einzukaufen und in Ländern mit höheren Preisen gewinnbringend zu verkaufen.
Originatoren sehen Parallelimporte oft kritisch, da sie ihre Preispolitik und Marktstrategie untergraben können. Sie argumentieren, dass Parallelimporte ihre Forschungsausgaben nicht berücksichtigen und zu Marktverzerrungen führen. Streit entsteht häufig wegen Markenrechten, Verpackungsänderungen oder Vertriebsbeschränkungen, die Pharmahersteller einführen, um Parallelimporte zu erschweren. Gerichtsverfahren klären oft, ob diese Maßnahmen zulässig sind oder gegen EU-Wettbewerbsrecht verstoßen.
In diesem Kontext ist auch eine aktuelle Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu sehen. Das BVerwG hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die gesetzlichen Kennzeichnungsvorschriften des Arzneimittelrechts allein im öffentlichen Interesse bestehen oder auch Rechte Dritte, hier also eines Originators verletzen können. Während das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) eine Rechtsverletzung – auch unter Berücksichtigung des EU-Rechts – verneint hat, hat das BVerwG diese Rechtsfrage mit Beschluss vom 20.03.2025 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Beantwortung vorgelegt. Zu dem Beschluss liegt bisher allerdings nur eine ausführliche Pressemitteilung vor.
1. Sachverhalt und Entscheidung des OVG NRW
Das OVG NRW (Urteil vom 14. Dezember 2021, Az. 9 A 1531/16) hatte sich mit der Zulassung eines Parallelimports eines Arzneimittels zu befassen, dessen Primärverpackung nicht den Kennzeichnungsvorschriften des Arzneimittelgesetzes (AMG) entsprach. Die Klägerin, Inhaberin der deutschen Zulassung für das Arzneimittel, machte geltend, dass die erteilte Parallelimportgenehmigung sie in eigenen Rechten verletze. Die zentrale Streitfrage war, ob die Kennzeichnungsvorgaben des § 10 Abs. 8 Satz 3 AMG drittschützend sind.
Das OVG NRW entschied, dass die Klägerin durch die Parallelimportgenehmigung nicht in eigenen Rechten verletzt sei. Es stellte fest:
- Die Kennzeichnungsvorschriften des AMG dienten vorrangig dem Verbraucherschutz und entfalten keine drittschützende Wirkung zugunsten des Inhabers der Originalzulassung.
- Auch markenrechtliche Ansprüche begründeten keine Klagebefugnis im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.
- Ein Verstoß gegen Kennzeichnungspflichten rechtfertigten nicht die Annahme einer subjektiv-öffentlichen Rechtsposition der Klägerin.
2. Entscheidung des BVerwG (nach Pressemitteilung des Gerichts)
Auf die Revision der Klägerin hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Beschluss vom 20. März 2025, Az. 3 C 9.23) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mehrere Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Es hielt die Annahme des OVG NRW, dass die Klägerin durch eine Abweichung von den Kennzeichnungsvorschriften nicht in eigenen Rechten verletzt sei, für bundesrechtlich fragwürdig. Nach Auffassung des BVerwG sind die Vorschriften zur Kennzeichnung von Arzneimitteln auch dazu bestimmt, den Inhaber der Arzneimittelzulassung vor dem Inverkehrbringen nicht ordnungsgemäß gekennzeichneter Parallelimporte zu schützen.
Das BVerwG stellte fest, dass nach nationalem Recht keine Möglichkeit zur Abweichung von den Kennzeichnungsvorschriften besteht. Es sah jedoch die Notwendigkeit, zu klären, ob sich eine solche Möglichkeit aus Art. 63 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG ergeben könnte.
3. Vorlagefragen an den EuGH
Das BVerwG legte dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
- Anwendbarkeit der Kennzeichnungsvorschriften: Finden die Kennzeichnungsvorgaben der Art. 54, 55 Abs. 3 und 63 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG auf ein parallel importiertes Arzneimittel Anwendung?
- Definition der direkten Patientenabgabe: Ist Art. 63 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG so auszulegen, dass ein Arzneimittel nicht direkt an Patienten abgegeben wird, wenn es der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegt?
- Unmittelbare Wirkung von Art. 63 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG: Kann sich ein Parallelimporteur vor den deutschen Gerichten auf diese Vorschrift berufen, falls sie nicht oder nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt wurde?
- Vereinbarkeit mit dem AEUV: Stehen Art. 34 und 36 AEUV der Anwendung nationaler Kennzeichnungsvorschriften entgegen, wenn die Umetikettierung eines parallel importierten Arzneimittels aufgrund einer wesentlichen Beeinträchtigung der Haltbarkeit nicht möglich ist?
Bedeutung und Ausblick
Die Vorlagefragen betreffen zentrale unionsrechtliche Fragestellungen zur Vereinbarkeit nationaler Kennzeichnungsvorschriften mit dem Grundsatz des freien Warenverkehrs. Die Entscheidung des EuGH wird maßgeblich darüber befinden, ob nationalstaatliche Anforderungen an die Kennzeichnung von Primärverpackungen in Fällen wie dem vorliegenden bestehen bleiben oder ob europäisches Recht eine flexiblere Handhabung erlaubt.
Bis zur Entscheidung des EuGH bleibt offen, ob die Zulassungsinhaberin eines Originalpräparats tatsächlich ein subjektives Abwehrrecht gegen eine Parallelimportgenehmigung wegen unzureichender Kennzeichnung hat oder ob das Unionsrecht vorrangig den Binnenmarktzugang regelt.
Bei Fragen zum Parallelimport von Arzneimitteln stehen sowohl in regulatorischer wie in markenrechtlicher Hinsicht die Anwälte von AVANTCORE Rechtsanwälte als Experten zur Verfügung.