Telemedizin, Rezeptweiterleitung und Apothekenrecht – Wie weit reicht das Zuweisungsverbot des § 11 ApoG im digitalen Zeitalter?
Hintergrund: Streit um Rezeptzuweisungen und automatisierte Apothekenauswahl
Im Zentrum der Entscheidung des LG Frankfurt a.M. vom 28. Mai 2025 steht ein hochaktuelles Thema im Apothekenrecht: Die rechtliche Zulässigkeit von Telemedizin-Plattformen, die Patienten digitale Rezepte ausstellen lassen und den Arzneimittelversand direkt durch angebundene Versandapotheken abwickeln – ohne dass der Patient die Apotheke selbst auswählt.
Die Antragstellerin, ein in Deutschland tätiger Betreiber einer eigenen Telemedizin-Plattform, sah hierin einen gravierenden Wettbewerbsverstoß. Konkret monierte sie die Zusammenarbeit eines Berliner Apothekers mit der Plattform „S“ (Sitz: London), die auf dem deutschen Markt insbesondere Leistungen im Zusammenhang mit medizinischem Cannabis anbietet. Im sogenannten „Premium-Lieferservice“ wurde dem Patienten nach einem Online-Arztbesuch nicht nur das Rezept erstellt, sondern auch automatisch eine Versandapotheke ausgewählt – meist ohne dass dem Patienten zuvor bekannt war, welche Apotheke konkret beliefert.
Nach Testbestellungen durch die Antragstellerin erhielt sie das Arzneimittel – etwa medizinisches Cannabis – von dem Antragsgegner (einem Berliner Apotheker) zugesandt. Die Abrechnung erfolgte ausschließlich über die Plattform „S“. Rechnungen wurden teilweise verweigert oder auf Nachfrage lediglich durch die Plattform erteilt. Die Antragstellerin wertete dies als unzulässige Absprache im Sinne von § 11 Abs. 1 ApoG und nahm den Apotheker wettbewerbsrechtlich auf Unterlassung in Anspruch.
Der rechtliche Streitpunkt: Verstoß gegen § 11 ApoG durch automatisierte Apothekenzuweisung?
Kernfrage des Verfahrens war, ob das Geschäftsmodell der Plattform „S“ – insbesondere der Premium-Service mit automatischer Apothekenauswahl – gegen das apothekenrechtliche Zuweisungsverbot (§ 11 Abs. 1 ApoG) verstößt und ob der beteiligte Apotheker als Teilnehmer an einer solchen verbotenen Absprache haftet.
Die Antragstellerin argumentierte:
- Die Plattform “S” entscheide ohne Einbeziehung des Patienten, welche Apotheke eine Rezeptur beliefert.
- Die sogenannte freie Apothekenwahl (§ 31 Abs. 1 SGB V) werde damit faktisch unterlaufen.
- Der Apotheker sei Mitwirkender einer systematischen, wirtschaftlich motivierten Verschreibungslenkung und damit Adressat des Zuweisungsverbots.
- Eine Absprache liege bereits deshalb vor, weil zwischen Plattform und Apotheke eine regelmäßige Belieferung ohne vorherigen Kontakt zum Patienten erfolgt sei – bei Zahlung direkt über die Plattform.
Der Apotheker verteidigte sich mit dem Hinweis, dass der Patient selbst die Auswahloption „Premium-Service“ aktiv wählen müsse. Es liege daher keine Fremdbestimmung, sondern eine bewusste Entscheidung vor. Zudem bestünde keine vertragliche Bindung oder kollusive Absprache mit der Plattform „S“.
Die Entscheidung des LG Frankfurt: Keine unzulässige Zuweisung – keine Haftung des Apothekers
1. Kein Verstoß gegen § 11 Abs. 1 ApoG
Das LG Frankfurt verneint einen Verstoß gegen das apothekenrechtliche Zuweisungsverbot:
- Zwar sei der Apotheker unstreitig Normadressat (§ 11 ApoG) und in einem konkreten Wettbewerbsverhältnis zur Antragstellerin tätig.
- Auch sei eine gewisse Einbindung des Apothekers in die Abläufe der Plattform „S“ gegeben.
- Jedoch: Die Zuweisung des Rezepts an eine Apotheke erfolge nur im Rahmen eines vom Patienten bewusst gewählten Servicemodells („Premium-Service“).
Der Patient treffe durch diese Wahl eine autonome Entscheidung, die Plattform mit der Apothekenauswahl zu betrauen. Diese Delegation sei zulässig – wie auch der BGH im Urteil „Partnervertrag“ klargestellt habe.
2. Kein faktischer Zwang zur Nutzung des Premium-Services
Zwar sei die Benutzerführung auf der Plattform „S“ in gewissem Umfang darauf ausgelegt, den Premium-Service hervorzuheben. Dennoch werde dem Patienten bereits im Bestellprozess die alternative Option „Nur Rezept (Standardservice)“ klar angeboten – inklusive Möglichkeit zur Auswahl einer Apotheke.
Ein Verstoß gegen § 11 ApoG liege nur dann vor, wenn dem Patienten die Möglichkeit der Apothekenwahl tatsächlich genommen werde. Das sei hier nicht der Fall – die Wahlfreiheit werde nicht verschleiert oder systematisch ausgehebelt.
3. Keine unzulässige Absprache zwischen Apotheker und Plattform
Auch eine (stillschweigende) Absprache im Sinne des § 11 ApoG zwischen dem Apotheker und der Plattform konnte nicht festgestellt werden:
- Der Beklagte habe nachvollziehbar dargelegt, dass er selbst Rechnungen ausstelle und keine Kenntnis über etwaige Abrechnungspraktiken oder “Servicepauschalen” von „S“ habe.
- Die Klägerin habe keine greifbaren Belege für eine vertragliche oder faktische Bindung vorgelegt, die über das bloße Beliefern auf Bestellung hinausgehe.
Entsprechend fehle es auch an einer planvollen Beteiligung oder einem gemeinsamen wettbewerbsrechtlich relevanten Tatplan.
Bewertung und Handlungsempfehlung
Was bedeutet das Urteil für Apotheken und Plattformbetreiber?
Telemedizinische Kooperationsmodelle sind rechtlich zulässig, sofern sie die freie Apothekenwahl des Patienten wahren.
Eine automatische Apothekenzuweisung ist nur dann zulässig, wenn der Patient diese bewusst gewählt hat – etwa durch die Aktivierung eines optionalen Serviceangebots wie hier.
Eine Benachteiligung der Apothekenwahlfreiheit kann sich aber durch technische Gestaltung, voreingestellte Optionen oder intransparente Nutzerführung ergeben. Plattformen und Apotheker müssen daher besonders auf eine diskriminierungsfreie Benutzerführung achten.
Empfehlung für Apotheken:
- Kooperationen mit Plattformen nur nach rechtlicher Prüfung – insbesondere hinsichtlich der Auswahlmechanismen und der Vertragsinhalte.
- Technische Prüfung von Bestell- und Abwicklungsprozessen auf mögliche faktische Beeinträchtigungen der Wahlfreiheit.
- Dokumentation und Transparenz gegenüber Patienten – z. B. durch klar erkennbare Absender, nachvollziehbare Rechnungsstellung und Hinweis auf Wahlmöglichkeiten.
Wir unterstützen Apotheken bei der rechtssicheren Gestaltung von Kooperationen mit digitalen Plattformen – von Vertragsprüfung bis zur technischen Nutzerführung im Bestellprozess.
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