Das OVG Lüneburg hat mit Beschluss vom 19.05.2025 (10 ME 33/25) über die Reichweite der Risikobewertung des prüfenden Mitgliedstaats für eine zonale Pflanzenschutzmittelzulassung entschieden.

  1. Rechtlicher Hintergrund: Europäisches Pflanzenschutzmittelrecht und das zonale Zulassungsverfahren bei der Pflanzenschutzmittelzulassung

Die Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 bildet den unionsrechtlichen Rahmen für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Ziel dieser Verordnung ist ein hoher Schutz für Mensch, Tier und Umwelt (Art. 1 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1107/2009). Gleichzeitig verfolgt sie eine Harmonisierung des Binnenmarkts durch das sogenannte zonale Zulassungsverfahren (Art. 33 ff. VO), wonach ein in einer geographischen Zone einmal zugelassenes Produkt in den anderen Mitgliedstaaten dieser Zone grundsätzlich ebenfalls zugelassen werden soll.

Ein zentraler Aspekt dabei ist Art. 36 VO (EG) Nr. 1107/2009. Danach ist ein „betreffender Mitgliedstaat“ (also ein solcher, in dem das Produkt in Verkehr gebracht werden soll) grundsätzlich an die Risikobewertung des „prüfenden Mitgliedstaats“ bei der Pflanzenschutzmittelzulassung gebunden. Eine eigenständige Ablehnung der Zulassung ist nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 36 Abs. 3 Unterabs. 2 VO zulässig – etwa bei spezifischen nationalen Umwelt- oder Gesundheitsrisiken.

  1. Worum ging es hier? – Streit um Zulassung eines Flufenacet-haltigen Pflanzenschutzmittels

Pflanzenschutzmittelzulassung Zonales Zulassungsverfahren Risikobewertung

Im Zentrum des Verfahrens stand die Zulassung des Pflanzenschutzmittels „G.“, das den Wirkstoff Flufenacet enthält. Die Tschechische Republik hatte als prüfender Mitgliedstaat eine Referenzzulassung erteilt. Die Antragsgegnerin (das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit) übernahm diese Bewertung und erteilte die nationale Pflanzenschutzmittelzulassung für Deutschland am 22. Dezember 2022, später verlängert durch Änderungsbescheid vom 14. Oktober 2024.

Ein Umweltverband beantragte vor dem VG Braunschweig die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Zulassung. Das VG gab dem statt – mit der Begründung, dass das Mittel angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ein nicht hinnehmbares Risiko für Mensch und Umwelt darstelle und der Nachweis der Unschädlichkeit durch die Beigeladene nicht erbracht sei.

  1. Rechtliche Erwägungen des OVG Lüneburg

a) Bindungswirkung der Risikobewertung bei der Pflanzenschutzmittelzulassung im zonalen Verfahren

Das OVG hebt den Beschluss des VG auf und verweist auf die klare Bindung des betreffenden Mitgliedstaats an die Risikobewertung des prüfenden Mitgliedstaats. Das Gericht folgt dabei der aktuellen EuGH-Rechtsprechung (C-308/22, C-309/22, C-310/22 vom 25.04.2024):

Ein Mitgliedstaat darf nur dann von der Risikobewertung abweichen und die Zulassung verweigern, wenn spezifische ökologische oder landwirtschaftliche Bedingungen ein unannehmbares Risiko begründen – und diese vom prüfenden Mitgliedstaat nicht berücksichtigt wurden.

Diese Einschränkung soll der Harmonisierung und Vereinfachung der Zulassungsverfahren dienen (Erwägungsgründe 9 und 29 VO).

b) Keine umfassende Überprüfungskompetenz des betreffenden Mitgliedstaats

Das OVG stellt klar: Auch wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, ist der betreffende Mitgliedstaat nicht frei, die gesamte Risikobewertung eigenständig zu wiederholen oder zu korrigieren – es sei denn, die genannten engen Voraussetzungen des Art. 36 Abs. 3 Unterabs. 2 VO sind erfüllt.

c) Keine ununterbrochene Nachweispflicht der Zulassungsinhaberin

Entgegen der Ansicht des VG Braunschweig verneint das OVG eine „fortdauernde Nachweispflicht“ seitens der Zulassungsinhaberin. Eine solche Pflicht ergibt sich nicht aus Art. 29 Abs. 2 VO, sondern kann allenfalls ex-post im Rahmen der Aufhebung nach Art. 44 VO greifen – nicht aber im Rahmen einer laufenden Widerspruchsprüfung.

d) Rolle des Vorsorgeprinzips

Das OVG bestätigt zwar die Bedeutung des Vorsorgeprinzips, betont jedoch, dass dieses nicht zu einer Aushöhlung der unionsrechtlichen Bindungswirkung führen dürfe. Eine Zulassung darf nur verweigert werden, wenn konkrete nationale Risiken im Einzelfall bestehen, nicht aber aufgrund einer generellen Unsicherheit über die Toxizität des Wirkstoffs.

  1. Fazit: Bedeutung der Entscheidung für Behörden, Hersteller und Umweltverbände

a) Für nationale Behörden

Die Entscheidung unterstreicht die enge Bindung an die Bewertung, die der prüfende Mitgliedstaat bei der Pflanzenschutzmittelzulassung vorgenommen hat. Die eigene Entscheidungskompetenz ist auf Ausnahmefälle beschränkt. Ein pauschaler Hinweis auf neue Erkenntnisse reicht nicht zur Ablehnung der Zulassung.

b) Für Pflanzenschutzmittelhersteller

Hersteller können sich im Rahmen des zonalen Verfahrens zur Pflanzenschutzmittelzulassung auf einen weitgehend verlässlichen Rechtsrahmen stützen. Die Bindung schützt vor nationalen Einzelgängen und wiederholter Neubewertung. Gleichzeitig besteht weiterhin die Pflicht zur fortlaufenden Überwachung und Mitteilung nach Art. 56 VO, wenn neue Risiken bekannt werden.

c) Für Umweltverbände und Kläger

Klagen gegen die nationale Zulassung sind mit hohen Hürden verbunden. Eine erfolgreiche Anfechtung setzt voraus, dass spezifische nationale Risiken nachgewiesen werden, die vom prüfenden Mitgliedstaat nicht erfasst wurden. Allgemeine Zweifel an der Wirkstoffsicherheit reichen nicht aus.

  1. Handlungsempfehlungen

  • Zulassungsinhaber sollten sorgfältig dokumentieren, dass keine neuen Risiken nach Art. 56 VO (EG) Nr. 1107/2009 bestehen, und proaktiv kommunizieren.
  • Betroffene Behörden sind gut beraten, ihre Entscheidungsgründe strikt an Art. 36 Abs. 3 VO auszurichten, um gerichtsfeste Zulassungen zu erlassen.
  • Umweltverbände sollten frühzeitig wissenschaftlich belastbare Belege für spezifische nationale Gefährdungslagen zusammentragen – idealerweise vor dem Prüfverfahren im Referenzstaat.

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