Mit Urteil vom 12. Juni 2025 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-415/23 P einen bedeutenden vergaberechtlichen Meilenstein gesetzt.

Wettbewerblicher Dialog und der Schutz vor unzulässigen Wettbewerbsvorteilen

Im Mittelpunkt stand ein milliardenschweres Vergabeverfahren zur Beschaffung von Galileo-Übergangssatelliten durch die Europäische Kommission im Rahmen eines wettbewerblichen Dialogs. Der Bieter OHB System AG warf einem konkurrierenden Unternehmen – Airbus Defence and Space (ADS) – vor, sich durch die Anstellung einer ehemaligen OHB-Führungskraft strategisch vertrauliche Informationen rechtswidrig zunutze gemacht zu haben.

Zunächst hatte das Gericht der Europäischen Union (EuG) diese Rügen zurückgewiesen (Urt. v. 26.04.2023 – T-54/21). Der EuGH aber stellte klar: Das EuG sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass allein das Fehlen eines formalen Ausschlussgrundes nach der Haushaltsordnung genügt, um ein Angebot zuzulassen. Vielmehr seien objektive Anhaltspunkte für eine mögliche Wettbewerbsverzerrung ausreichend, um eine Pflicht zur vertieften Prüfung auszulösen.

Wettbewerbsverzerrung durch Mitarbeiterwechsel  bei der Vergabe eines Satellitenauftrags

Das Urteil hat erhebliche Praxisrelevanz für öffentliche Auftraggeber, Hightech-Bieter und alle Verfahren mit strategisch sensiblen Informationen.

Darum ging es: Hochtechnologie, Personalwechsel und der Vorwurf der Angebotsverfälschung

Die OHB System AG bewarb sich um den Zuschlag im Rahmen eines durch die ESA im Namen der Europäischen Kommission durchgeführten wettbewerblichen Dialogs zur Beschaffung von Galileo-Übergangssatelliten. Im Verlauf des mehrjährigen Verfahrens wechselte ein leitender Mitarbeiter von OHB zu ADS, einem unmittelbaren Mitbewerber im Verfahren.

Dieser Mitarbeiter war bei OHB für strategisch entscheidende Aspekte wie Preisgestaltung, Angebotsstruktur und technische Ausrichtung zuständig gewesen. Bei ADS übernahm er in der Angebotsphase eine Führungsrolle. OHB vermutete, dass ADS durch diesen Personalwechsel Zugang zu wettbewerbssensiblen Informationen erlangt hatte und damit ein unzulässiger Vorteil bestand.

Trotz entsprechender Hinweise sah die Kommission keinen Anlass für weitere Ermittlungen. Die Zuschläge wurden an ADS und Thales Alenia Space Italia (TASI) vergeben. OHB legte Rechtsmittel ein, nachdem das EuG ihre Klage abgewiesen hatte.

Verfahrensform: Der wettbewerbliche Dialog im Überblick

Das Verfahren wurde als wettbewerblicher Dialog nach Art. 29 der Richtlinie 2014/24/EU durchgeführt. Diese Verfahrensform eignet sich für besonders komplexe Beschaffungsvorhaben, bei denen der öffentliche Auftraggeber bereits den Bedarf kennt, aber nicht, wie dieser technisch oder wirtschaftlich am besten zu decken ist.

Der Dialog wurde in drei Phasen geführt:

  1. Teilnahmeanträge: Auswahl von drei Bietern (OHB, ADS, TASI).
  2. Dialog- und Angebotsphase: Entwicklung von Lösungsvorschlägen in mehreren Iterationen.
  3. Best and Final Offer (BAFO): Bewertung nach dem Zuschlagskriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots (35 % Preis, 65 % Qualität).

Die Bewertung führte zur Reihung: TASI (1), ADS (2), OHB (3).

Rechtliche Würdigung durch den EuGH

1. Zentrale Aussage: EuGH hebt das EuG-Urteil auf

Der EuGH korrigiert das EuG in wesentlichen Punkten: Die dort getroffene Entscheidung sei rechtsfehlerhaft, weil sie die Verpflichtungen der Kommission zur Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 160 Haushaltsordnung, Art. 18 RL 2014/24/EU) zu eng ausgelegt habe.

2. Prüfpflicht bei Anhaltspunkten für unfaire Vorteile

Der EuGH betont: Nicht erst rechtskräftige Urteile oder formelle Verwaltungsentscheidungen lösen Prüfpflichten aus. Schon objektive Indizien, die Zweifel an der Eigenständigkeit eines Angebots begründen, verpflichten den Auftraggeber zur Prüfung.

Beispielhafte Anhaltspunkte: Zugang zu internen Strategien, Preisbildung, Know-how; personelle Überschneidungen; ungewöhnlicher Preis.

3. Rüge: EuG prüfte nur Art. 136 Haushaltsordnung – zu eng

Das EuG hatte seine Prüfung allein auf die formalen Ausschlussgründe gestützt, namentlich Art. 136 Haushaltsordnung (z. B. rechtskräftig festgestellte schwere berufliche Verfehlung). Der EuGH hält dem entgegen: Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz kann auch unabhängig davon eine Angebotsausschluss rechtfertigen (vgl. EuGH, C-531/16 – Specializuotas transportas, und C-697/17 – Telecom Italia).

4. Indizien reichen aus – kein Vollbeweis erforderlich

Der EuGH stellt ausdrücklich klar, dass ein Bieter nicht den Vollbeweis führen muss, sondern nur konsistente und objektive Hinweise vorlegen muss. Es ist dann Aufgabe des öffentlichen Auftraggebers, diesen Verdacht zu überprüfen – auch durch Nachfragen beim betroffenen Bieter.

5. Zurückverweisung an das EuG

Der EuGH hebt das Urteil auf und verweist die Sache zur erneuten Prüfung zurück. Das Gericht muss nun insbesondere klären, ob die konkreten Hinweise von OHB (zum Beispiel aus forensischen IT-Untersuchungen) als ausreichende Grundlage für eine Pflicht zur Ausschlussprüfung durch die Kommission genügten.

Bedeutung für die Praxis: Compliance, Dokumentation und aktive Rüge sind entscheidend

Für öffentliche Auftraggeber:

  • Pflicht zur aktiven Aufklärung bei Indizien für Wettbewerbsverzerrung
  • Dokumentation von Verdachtsmomenten und Prüfungsschritten ist unerlässlich
  • Ausschluss darf nicht nur formaljuristisch betrachtet werden – Gleichbehandlungsprinzip geht weiter

Für Bieterunternehmen:

  • Frühzeitige, substantiierte Rügen bei Verdacht auf unfaire Verfahrensvorteile
  • Compliance-Maßnahmen beim Abgang sensibler Mitarbeiter (z. B. Sperrfristen, IT-Logs, Exit-Interviews)
  • Risikoanalyse bei Neueinstellungen von Mitarbeitern mit Zugang zu Wettbewerbsunterlagen

Für alle Teilnehmer in wettbewerblichen Dialogen:

  • Transparente Kommunikation über Verfahrensänderungen
  • Aktenmäßige Absicherung jeder kritischen Personalentscheidung
  • Zusammenarbeit mit spezialisierten Kanzleien für Vergaberecht im Fall von Zweifeln oder Streitigkeiten

Fazit: EuGH stärkt vergaberechtliche Gleichbehandlung und bejaht Aufklärungspflichten

Der EuGH bekräftigt mit diesem Urteil die zentrale Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Vergabeverfahren. Öffentliche Auftraggeber dürfen sich nicht hinter formalen Schwellen oder dem Fehlen gerichtlicher Feststellungen verstecken. Vielmehr sind sie verpflichtet, bei Anzeichen für unzulässige Vorteile aktiv zu prüfen – auch auf Grundlage bloßer Indizien.

Für Bieter bedeutet dies: Der Schutz gegen unlauteren Wettbewerb ist einklagbar, sofern gut dokumentiert, rechtzeitig gerügt und sauber begründet.

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