Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) setzt sich neben grundlegenden vergaberechtlichen Fragen auch mit den Anforderungen an eine vergaberechtliche Angebotswertung auseinander.

 

Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) setzt sich in einer aktuellen Entscheidung (Beschluss vom 07.05.2025 – Verg 8/24) mit grundlegenden vergaberechtlichen Fragen auseinander. Dabei nimmt das Gericht auch ausführlich zu den Anforderungen an eine vergaberechtliche Angebotswertung Stellung.

Vergaberechtliche Ausgangsfragen

  1. Wie weit reicht der Beurteilungsspielraum der Vergabestelle bei der Konzeptbewertung?
  2. Wann liegt eine vergaberechtswidrige Bewertung vor?
  3. Welche Anforderungen stellt § 8 VgV an die Dokumentation von Zuschlagsentscheidungen?
  4. Wann ist die Hinzuziehung eines Anwalts durch die Vergabestelle als erforderlich (nicht nur zulässig) anzusehen – und wann nicht?

 

Im Zentrum steht die Bewertung komplexer Konzepte im Rahmen eines offenen Vergabeverfahrens, wie sie im Gesundheitswesen, IT- und Dienstleistungsbereich zunehmend üblich ist.

Darum ging es genau: Ausschreibung komplexer Dienstleistungen mit Konzeptpflichten

Die Antragsgegnerin als Vergabestelle – ein öffentliches Klinikum – schrieb im offenen Verfahren EU-weit die Erbringung von Beschaffungsdienstleistungen im Gesundheitswesen aus. Zwei große Einkaufsgemeinschaften (Antragstellerin und Beigeladene) bewarben sich.

Der Angebotswertung lag das folgende Bewertungssystem zugrunde:

  • 30 % Preis (Rückvergütung)
  • 70 % Qualität anhand mehrerer Konzepte mit Unterkategorien, insgesamt max. 220 Punkte.

Gefordert wurden u.a. Konzepte zu:

Vergaberechtliche Angebotswertung Vergaberecht

  • Rückvergütungsmechanismen (Konzept 1),
  • Maßnahmen zur Abwehr von Preiserhöhungen (2.6),
  • Sicherstellung fristgerechter Unterlagenbereitstellung (2.7–2.9),
  • Digitalisierung der Plattform (3.7–3.11),
  • innovative Produkte (4),
  • Netzwerk- und Weiterbildungsangebote (5),
  • Lieferengpassmanagement (6.1–6.2).
Verfahrensgang:

Die Antragstellerin unterlag im Gesamtvergleich trotz besserer Rückvergütung – weil die Beigeladene qualitativ deutlich höher bewertet wurde. Die Antragstellerin erhob Rügen und stellte Nachprüfungsantrag, dem die Vergabekammer teilweise stattgab. Dagegen legten beide Seiten Beschwerde ein.

Die Fehler der Angebotswertung im Detail

Das Gericht beanstandete inhaltlich zahlreiche gravierende und strukturelle Fehler bei der Konzeptbewertung:

  1. Widersprüche zur eigenen Zielvorgabe (z. B. Konzept 1 – Rückvergütung)
  • Fehler: Die Vergabestelle hatte in der Wertungsmatrix eine schnelle Rückzahlung ausdrücklich als positiv benannt.
  • Konflikt: Die Antragstellerin bot eine schnellere Rückzahlung als die Beigeladene – erhielt aber dennoch weniger Punkte, da dies angeblich zu erhöhtem Verwaltungsaufwand führe.
  • Rechtliche Würdigung: Das BayObLG stellt klar: Wer ein bestimmtes Merkmal als Zuschlagskriterium vorgibt, darf dieses nicht bei der Bewertung ins Negative verkehren. Das untergräbt die Transparenz und Gleichbehandlung.
  1. Nicht nachvollziehbare, inkonsistente Bewertungen (z. B. Konzept 2.6 – Abwehr Preiserhöhungen)
  • Die Vergabestelle lobte das Krisenmanagement-Team der Antragstellerin ausdrücklich – und warf gleichzeitig „fehlende Tiefe“ vor, ohne zu begründen, worin dies bestehen soll.
  • Problem: Es fehlt an einer stringenten, widerspruchsfreien Begründung der Bepunktung.
  1. Unklare Bewertungskriterien und Maßstabsverschiebungen
  • Mehrfach wurden nicht veröffentlichte Erwartungen (z. B. personalisierte Benachrichtigungen, bestimmte Suchfunktionen) zur Grundlage der Bewertung gemacht, obwohl diese nicht Gegenstand der Ausschreibung waren (z. B. Konzept 3.7 und 3.8 zur Plattformfunktionalität).
  • Verstoß gegen das Transparenzgebot (§ 97 Abs. 1 GWB): Bieter müssen wissen, wonach sie bewertet werden.
  1. Unzulässige Subjektivität
  • In mehreren Fällen (z. B. Konzept 3.8) floss subjektive Erfahrung mit einer Plattform in die Bewertung ein, statt den konkret eingereichten Konzeptinhalt zu werten.
  • Das Gericht stellte klar: Die Bewertung hat sich auf die Angebotsinhalte zu beschränken. Subjektive externe Eindrücke sind vergaberechtswidrig.
  1. Fehlinterpretationen und Auslegungsfehler
  • Beispiel Konzept 5 (Weiterbildung): Die Vergabestelle meinte, es sei nicht erkennbar, dass ein angebotenes Fortbildungsprogramm auch dem Auftraggeber offenstehe.
  • Fehler: Das Konzept war unter der Überschrift „Angebot für Mitarbeiter des Auftraggebers“ formuliert.
  • Das Gericht urteilte: Eine sachgerechte Auslegung hätte dies als Angebot an den Auftraggeber verstehen müssen.
  1. Fehlender Vergleich trotz relativer Bewertung
  • Obwohl ein „relativer Vergleich“ als Methode vorgesehen war, wurde in mehreren Fällen kein sachlicher Bezug zur Bewertung der Beigeladenen hergestellt.
  • Dies widerspricht dem vom BGH geforderten vergleichenden Bewertungsmaßstab (BGH, NZBau 2017, 366, Rn. 53).
Dokumentation nach § 8 VgV: Form vorhanden – Inhalt lückenhaft

Das BayObLG stellt klar:

  • Dokumentationspflichten dienen nicht nur der Nachvollziehbarkeit, sondern auch der Sicherstellung rechtmäßiger Entscheidungen.
  • Der Vergabevermerk war formal vorhanden – aber inhaltlich unzureichend, weil:
    • Keine konsistente Linie erkennbar war,
    • gewichtige Gesichtspunkte nicht dokumentiert waren,
    • Abweichungen nicht begründet wurden,
    • Vergleich mit anderen Angeboten oft fehlte.
Rechtsanwalt: Zulässig ja – erstattungsfähig nein

Das Gericht differenziert:

  • Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts ist selbstverständlich zulässig, auch für öffentliche Auftraggeber.
  • Ob die gegnerische Partei aber die Kosten zu tragen hat, richtet sich nach § 182 Abs. 4 GWB: Nur wenn die Beauftragung erforderlich war.

Hier ist es aber für die Vergabestelle nicht erforderlich, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, weil:

  • Die Bewertung von Konzepten gehört zum Kerngeschäft einer Vergabestelle.
  • Es handelte sich um standardisierte Konzepte ohne besondere Rechtsfragen.
  • Keine außergewöhnliche Komplexität oder Rechtsunsicherheit.
  • Keine Verbindungen zu anderen Rechtsgebieten.
  • Die Vergabestelle war personell und fachlich ausreichend ausgestattet.

Der Grundsatz: Waffengleichheit allein rechtfertigt keine Kostenerstattung.

Empfehlungen für die Praxis

Für Vergabestellen:
  • Halten Sie sich bei der Angebotswertung streng an Ihre Wertungskriterien – keine nachträgliche Maßstabsverschiebung!
  • Dokumentieren Sie Ihre Wertung sachlich, konsistent und vergleichend.
  • Prüfen Sie bei jeder Konzeptbewertung: Ist die Begründung plausibel, widerspruchsfrei und vergleichbar?
  • Vermeiden Sie Eindrucksbewertungen ohne Bezug zum Angebotstext.
  • Verzichten Sie auf externe Anwaltskosten, wenn keine komplexen Fragen oder interdisziplinären Themen vorliegen.
Für Bieter:
  • Konzepte sollten klar strukturiert und eindeutig formuliert sein, um Fehlinterpretationen zu vermeiden.
  • Wenn Ihre Stärken nicht gewürdigt wurden: Rügen Sie detailliert – auch vor Akteneinsicht!
  • Prüfen Sie die Begründung der Angebotswertung auf:
    • Widersprüche zur Wertungsmatrix,
    • fehlende Vergleichbarkeit,
    • unklare Maßstäbe,
    • externe Bezugnahmen ohne sachlichen Konzeptbezug.

Fazit

Die Entscheidung ist ein exemplarischer Fall für die steigenden Anforderungen an Konzeptbewertungen und die Angebotswertung in funktionalen Ausschreibungen. Sie zeigt: Wer qualitative Zuschlagskriterien nutzt, muss bewerten können – methodisch, sachlich, fair und dokumentiert. Fehler bei Zielvorgaben, Bewertungslogik oder Begründung führen schnell zur Rechtswidrigkeit der Zuschlagsentscheidung.

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