Die Einordnung von Grenzprodukten im Schnittfeld zwischen Arzneimittel-, Lebensmittel- und Medizinprodukterecht gehört zu den anspruchsvollsten Fragen des europäischen Gesundheitsrechts.
Mit seinem Urteil vom 4. September 2025 in der Rechtssache C-451/24 (Kwizda Pharma) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Tragweite der Vorrangregel des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG geschärft. Das Urteil verdeutlicht, dass die rechtliche Klassifizierung nicht nur eine technische, sondern eine zentrale Frage des Marktzugangs und des Gesundheitsschutzes ist.
Warum die Abgrenzung von Produktgruppen so wichtig ist
Ob ein Erzeugnis als Arzneimittel, als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, als Nahrungsergänzungsmittel oder als Medizinprodukt gilt, entscheidet über die regulatorischen Hürden. Für Arzneimittel gilt ein strenges Zulassungsverfahren, verbunden mit hohen Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit. Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke oder Nahrungsergänzungsmittel können demgegenüber mit einer einfachen Notifizierung oder Kennzeichnung in Verkehr gebracht werden.
Gerade an den Schnittstellen entstehen sogenannte „Grenzprodukte“, deren Eigenschaften sowohl für die eine als auch für die andere Kategorie sprechen. Für Unternehmen bedeutet dies ein erhebliches Risiko: Wird ein Produkt als Lebensmittel angemeldet, später jedoch als Arzneimittel eingestuft, drohen Vertriebsverbote, Rückrufaktionen und Bußgelder. Umgekehrt könnten Produkte zu Unrecht der arzneimittelrechtlichen Zulassungspflicht unterfallen, was den Marktzugang verzögert und Investitionen blockiert.
Der Streitfall in Österreich: Kwizda Pharma gegen die Landesbehörde Wien
Die Kwizda Pharma GmbH brachte vier Produkte auf den Markt, deren Wirkstoffe die Anhaftung von Bakterien an den Schleimhäuten der Harnwege verhindern sollten. Die Produkte wurden bei Harnwegsinfekten empfohlen und als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke angemeldet.
Die Wiener Landesbehörde sah dies anders: Sie untersagte die Vermarktung mit der Begründung, die Produkte erfüllten nicht die Voraussetzungen des Lebensmittelrechts. Vielmehr handle es sich um Präsentationsarzneimittel, da sie nach ihrer Aufmachung und Bewerbung den Eindruck eines Heilmittels erweckten.
Das Verwaltungsgericht Wien bestätigte diese Sichtweise. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hob diese Entscheidung jedoch zunächst auf und verwies auf die Vorrangregel des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG. Danach gilt in Zweifelsfällen das Arzneimittelrecht. Es stellte sich damit die Frage, ob eine Lebensmittelbehörde überhaupt befugt ist, Produkte aus dem Verkehr zu ziehen, die nach Auffassung eines Gerichts Arzneimittel darstellen. Diese Unklarheit führte zur Vorlage an den EuGH.
Die Kernaussagen des EuGH
Der EuGH nutzte den Fall, um die Reichweite der Vorrangregel zu präzisieren:
- Vorrangregel nur bei echten Zweifelsfällen
Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG greift ausschließlich dann, wenn tatsächlich unklar ist, ob ein Produkt Arzneimittel oder einem anderen Regime – etwa Lebensmittelrecht – zuzuordnen ist. - Eindeutigkeit schließt Vorrang aus
Besteht kein Zweifel, dass ein Produkt ein Arzneimittel ist (z. B. Präsentationsarzneimittel), ist ausschließlich das Arzneimittelrecht anwendbar. Umgekehrt gilt: Fällt ein Produkt eindeutig unter die Definition anderer Kategorien wie Lebensmittel oder Medizinprodukte, so findet das Arzneimittelrecht keine Anwendung. - Pflicht zur behördlichen Zusammenarbeit
Der EuGH betont den unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV). Nationale Behörden müssen Informationen austauschen, um Regelungslücken und Vollzugslücken zu vermeiden. Eine Lebensmittelbehörde darf ein unzulässiges Produkt nicht im Verkehr belassen, nur weil die Arzneimittelbehörde formal zuständig ist. - Schutz der öffentlichen Gesundheit als Leitprinzip
Die strengen Vorgaben des Arzneimittelrechts dienen primär dem Gesundheitsschutz. Diesem Ziel würde es widersprechen, wenn ein Produkt trotz eindeutiger Einstufung als Arzneimittel unter dem Deckmantel eines Lebensmittels vertrieben werden könnte.
Praktische Folgen für Unternehmen und sonstige Marktakteure
Das Urteil verdeutlicht, dass die strategische Wahl der Produktkategorie für Unternehmen kein Instrument zur Umgehung von Zulassungspflichten sein darf. Insbesondere gesundheitsbezogene Werbeaussagen bergen das Risiko einer Einstufung als Präsentationsarzneimittel.
Unternehmen sollten daher:
- Vor Markteintritt eine fundierte rechtliche Prüfung der Produktmerkmale, Wirkungsweise und Aufmachung durchführen lassen.
- Grenzprodukte mit Vorsicht positionieren und Werbeaussagen strikt an den regulatorischen Rahmen anpassen.
- Frühzeitig den Dialog mit Behörden suchen, um Risiken von Rückrufen und Vertriebsverboten zu minimieren.
- Compliance-Prozesse etablieren, die sowohl Lebensmittel- als auch Arzneimittelrecht im Blick haben.
Fazit und Empfehlung
Der EuGH hat die Linie bekräftigt: Das Arzneimittelrecht ist kein Auffangbecken, sondern eine Schutzregel für Zweifelsfälle. Sobald Klarheit über die Einstufung besteht, gilt ausschließlich das einschlägige Regime. Für die Praxis bedeutet dies: Unternehmen müssen die Darstellung und Bewerbung ihrer Produkte besonders sorgfältig gestalten. Schon implizite Heilungsversprechen genügen, um ein Produkt in die strengeren Bahnen des Arzneimittelrechts zu lenken.
Hersteller, Importeure und Händler sollten bei jeder Produktentwicklung eine rechtliche Frühprüfung durch AVANTCORE RECHTSANWÄLTE in Stuttgart durchführen lassen, die sowohl funktionale Wirkmechanismen als auch Präsentation und Vermarktung berücksichtigt. Nur so lassen sich regulatorische Fallstricke vermeiden und die Marktfähigkeit langfristig sichern.