Das OVG Berlin-Brandenburg hat eine wegweisende Entscheidung zum Abwehrrecht von Nachbargemeinden bei großflächigen Einzelhandelsvorhaben getroffen.

Städtebauliche Verträglichkeit, interkommunale Zusammenarbeit und das Abwehrrecht von Nachbargemeinden bei großflächigen Einzelhandelsvorhaben: Das OVG Berlin-Brandenburg hat mit dem Beschluss vom 19. Juni 2025 (Az. OVG 2 S 45/24) eine wegweisende Entscheidung getroffen, die Investoren, Standortgemeinden und Nachbarkommunen gleichermaßen betrifft.

Worum ging es in dem Verfahren?

Eine brandenburgische Nachbargemeinde wehrte sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Baugenehmigung zum Um- und Anbau eines Möbelhauses in einer angrenzenden Kommune. Sie rügte insbesondere die Verletzung des interkommunalen Abstimmungsgebots (§ 2 Abs. 2 BauGB) sowie eine Gefährdung ihres zentralen Versorgungsbereichs durch schädliche städtebauliche Auswirkungen im Sinne von § 34 Abs. 3 BauGB.

Der Sachverhalt im Überblick

Die Beigeladene – Betreiberin eines Möbelhauses – hatte von der zuständigen Bauaufsichtsbehörde die Genehmigung für Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen erhalten. Die klagende Nachbargemeinde sah darin eine planwidrige Umgehung städtebaulicher Abstimmungsprozesse, insbesondere durch Aufhebung eines älteren Bebauungsplans der Standortgemeinde, gegen die das Abwehrrecht geltend gemacht werden sollte. Darüber hinaus befürchtete sie Umsatzverlagerungen, die zu einer funktionalen Schwächung ihres zentralen Versorgungsbereichs führen könnten.

Kern der rechtlichen Bewertung

  1. Kein Abwehrrecht aus § 2 Abs. 2 BauGB – Ende der Weichenstellungsrechtsprechung

Das OVG stellte klar, dass sich das Abwehrrecht einer Nachbargemeinde im unbeplanten Innenbereich ausschließlich nach § 34 Abs. 3 BauGB richtet. Ein Rückgriff auf das allgemeine interkommunale Abstimmungsgebot des § 2 Abs. 2 BauGB sei – selbst bei vermeintlich „aktiver Einflussnahme“ durch Planaufhebung – nicht mehr zulässig.

Diese Einschätzung folgt der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das seine frühere „Weichenstellungsrechtsprechung“ ausdrücklich aufgegeben hat.

Was war die Weichenstellungsrechtsprechung?

interkommunales Abwehrrecht WeichenstellungsrechtsprechungNach dieser früheren Linie des BVerwG konnten Nachbargemeinden gegen Planungen oder Genehmigungen einer benachbarten Gemeinde vorgehen, wenn diese in unzulässiger Weise „die Weichen stellte“, um den eigenen Standort auf Kosten anderer zu stärken – z. B. durch bewusst nachteilige Einzelhandelsansiedlungen. Der Schutz erfolgte über eine analoge Anwendung von § 2 Abs. 2 BauGB, wenn das Baugesetzbuch keine ausdrückliche Regelung vorsah.

Warum ist diese Rechtsprechung überholt?

Mit Einführung von § 34 Abs. 3 BauGB durch das Europarechtsanpassungsgesetz Bau hat der Gesetzgeber bewusst und abschließend geregelt, wann großflächiger Einzelhandel im unbeplanten Innenbereich zulässig ist und wann nicht – insbesondere unter dem Aspekt schädlicher Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche.

Das BVerwG hat in Urteilen aus 2023 und 2024 (zuletzt BVerwG, Urt. v. 26.09.2024 – 4 C 3.23) betont, dass für die Weichenstellungsrechtsprechung kein Raum mehr besteht, da sie durch § 34 Abs. 3 BauGB vollständig ersetzt wurde. Eine analoge Anwendung von § 2 Abs. 2 BauGB sei weder erforderlich noch systemgerecht, da es weder eine planwidrige Regelungslücke noch eine Schutzlosstellung gebe. Damit wird auch deutlich: Selbst gezielte Aufhebungen von Bebauungsplänen begründen kein eigenständiges Abwehrrecht der Nachbargemeinde mehr.

Das OVG Berlin-Brandenburg schloss sich dieser Linie konsequent an.

  1. Keine schädlichen Auswirkungen i.S.v. § 34 Abs. 3 BauGB

Auch eine Verletzung des § 34 Abs. 3 BauGB – dem heute allein maßgeblichen Maßstab für den gemeindlichen Nachbarschutz – verneinte das Gericht. Die von der klagenden Gemeinde vorgelegte Auswirkungsanalyse wurde als methodisch nicht schlüssig und im Ergebnis nicht belastbar eingestuft:

  • Der Untersuchungsraum war im Vergleich zu früheren Gutachten erweitert worden, ohne dies nachvollziehbar zu begründen.
  • Die behauptete Anziehungskraft des neuen Möbelhausstandorts wurde durch realitätsferne Annahmen zur Kaufkraftverschiebung überzeichnet.
  • Der sogenannte Spill-over-Effekt von 10 % zusätzlichem Umsatz wurde nicht plausibilisiert und war nach Auffassung des Gerichts „aus der Luft gegriffen“.
  • Eine relevante Beeinträchtigung des zentralen Versorgungsbereichs der Antragstellerin ließ sich somit nicht prognostizieren.

Das Gericht betonte darüber hinaus, dass selbst ein gewisser Umsatzrückgang keine schädliche Auswirkung im Sinne des Gesetzes darstellt, solange keine funktionale Gefährdung des betroffenen Bereichs nachgewiesen ist.

Was bedeutet die Entscheidung für Kommunen und Investoren?

Die Entscheidung stärkt die Planungshoheit der Standortgemeinden und betont die Rolle von § 34 Abs. 3 BauGB als alleinige Schutzvorschrift für Nachbargemeinden im unbeplanten Innenbereich.

  • Für Nachbargemeinden gilt: Eine erfolgreiche Abwehr setzt einen belastbaren Nachweis konkreter schädlicher Auswirkungen voraus. Die bloße Berufung auf das interkommunale Abstimmungsgebot reicht nicht mehr.
  • Für Projektentwickler: Die Rechtssicherheit nimmt zu – fundierte Verträglichkeitsanalysen und transparente Abstimmungen mit der Standortgemeinde bilden die beste Grundlage für rechtssichere Projekte.
  • Für Standortgemeinden: Die Aufhebung veralteter oder fehlerhafter Bebauungspläne ist zulässig – auch wenn dadurch Raum für neue Einzelhandelsvorhaben geschaffen wird.

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