Das Urteil des EuGH (Rechtssache C‑581/23) vom 8. Mai 2025 setzt für das Alleinvertriebsrecht wichtige Maßstäbe bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Alleinvertriebsvereinbarungen innerhalb der EU.
Im Fokus steht die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein aktives Verkaufsverbot in exklusiv zugewiesene Gebiete mit Art. 101 AEUV und der Gruppenfreistellungsverordnung (VO Nr. 330/2010) vereinbar ist. Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen für Hersteller, Lieferanten und Exklusivhändler, die mit territorialen Exklusivitäten arbeiten – insbesondere bei der Gestaltung kartellrechtskonformer Vertriebsverträge, die ein Alleinvertriebsrecht beinhalten sollen.
Wo wurde ein Alleinvertriebsrecht vereinbart?
Im Zentrum des Rechtsstreits stand die Frage, ob ein Hersteller seine Vertriebspartner wirksam anweisen kann, den aktiven Verkauf in ein einem anderen Händler exklusiv zugewiesenes Gebiet zu unterlassen – und welche Voraussetzungen dafür vorliegen müssen.
Im konkreten Fall hatte der niederländische Käsehersteller Cono der belgischen Firma Beevers Kaas BV durch eine Alleinvertriebsvereinbarung vertraglich das exklusive Alleinvertriebsrecht für Beemster-Käse in Belgien und Luxemburg eingeräumt. Die Vereinbarung bestand bereits seit 1993 und beinhaltete, dass Cono selbst nicht direkt an andere belgische Abnehmer verkaufen darf.
Allerdings vertrieben in Belgien tätige Supermärkte der Albert Heijn-Gruppe (Teil der niederländischen Ahold Delhaize) ebenfalls Beemster-Käse – allerdings über eigene Bezugsquellen bei Cono, die nicht für das Gebiet Belgien bestimmt waren. Beevers Kaas warf diesen Unternehmen vor, sich aktiv an einer Umgehung der exklusiven Vertriebsvereinbarung zu beteiligen und dadurch gegen belgisches Wettbewerbsrecht (Art. VI.104 des Wirtschaftsgesetzbuchs) zu verstoßen.
Der behauptete Rechtsverstoß im Detail:
- Beevers Kaas warf den Albert Heijn-Gesellschaften vor, bewusst Produkte, die für andere Märkte bestimmt waren, aktiv in Belgien zu verkaufen – also in das exklusiv geschützte Gebiet.
- Dies stelle – so Beevers Kaas – eine Mitwirkung an der Verletzung ihrer Exklusivitätsrechte dar.
- Die Supermarktgruppe habe gewusst, dass Beevers Kaas über ein Alleinvertriebsrecht verfüge, und dennoch ohne Schutzklausel gegenüber parallelen Importen gehandelt.
- Zudem wurde argumentiert, dass dieses Verhalten den wirtschaftlichen Wert der Exklusivität faktisch aushebelt und als unzulässiger Eingriff in vertraglich geschützte Vertriebsstrukturen zu werten sei.
Demgegenüber machten die Albert Heijn-Gesellschaften geltend, dass es sich hierbei nicht um eine verbotene Vereinbarung über den Wiederverkauf handele. Cono habe ihnen nie ein Verkaufsverbot für Belgien auferlegt, und Beevers Kaas sei nicht durch eine wirksame parallele Schutzverpflichtung abgesichert gewesen. Es fehle somit an den Voraussetzungen, die eine Exklusivität kartellrechtlich rechtfertigen und zugleich andere Wiederverkäufer binden könnten.
Die nationalen Gerichte in Belgien standen damit vor der Frage, ob eine Exklusivitätsregelung im Vertriebsvertrag nur dann kartellrechtskonform ist, wenn auch alle anderen Wiederverkäufer tatsächlich und rechtssicher von aktiven Verkäufen in das Exklusivgebiet ausgeschlossen sind – und wie streng dieser Schutz nachzuweisen ist.
Rechtliche Kernaussagen des EuGH: Keine stillschweigende Vereinbarung ohne Nachweis
Der EuGH stellt in seinem Urteil zwei wesentliche Punkte klar:
- Bloßes Unterlassen von Verkaufsaktivitäten reicht nicht aus
Der Gerichtshof betont, dass die bloße Feststellung, andere Abnehmer hätten nicht aktiv in das exklusive Gebiet verkauft, nicht ausreicht, um das Vorliegen einer „Vereinbarung“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV zu belegen. Ein kartellrechtlich relevantes Verkaufsverbot muss sich aus einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung zu einer Aufforderung des Anbieters ergeben.
- Beweislast für Ausnahmetatbestand liegt beim Anbieter
Für die Inanspruchnahme der Ausnahme nach Art. 4 lit. b Ziff. i VO 330/2010 trägt der Anbieter die Beweislast. Er muss nachweisen, dass:
- eine konkrete Aufforderung an die anderen Abnehmer ergangen ist, in das exklusive Gebiet nicht aktiv zu verkaufen, und
- diese Abnehmer dieser Aufforderung zugestimmt haben, sei es ausdrücklich oder durch ihr Verhalten.
Dabei genügt ein rein tatsächliches Verhalten – z. B. der Verzicht auf aktive Verkäufe – nur in Verbindung mit weiteren objektiven, übereinstimmenden Indizien, wie z. B. Überwachungssystemen, abgestimmtem Verhalten oder ausdrücklichen Vertragsklauseln.
Relevanz für die Vertragsgestaltung in der Vertriebspraxis
Das Urteil hat weitreichende praktische Konsequenzen für Unternehmen, die mit Alleinvertriebssystemen oder selektiven Vertriebssystemen arbeiten:
Wesentliche Compliance-Punkte für Vertriebsverträge:
- Aktive Verkaufsverbote in exklusiv zugewiesene Gebiete durch ein Alleinvertriebsrecht müssen klar und nachweisbar vertraglich geregelt sein.
- Verhalten der Abnehmer darf nicht alleinige Grundlage für die Annahme einer Vereinbarung sein.
- Nachweise über Kommunikation (z. B. Mitteilungen, schriftliche Hinweise, Vertragsklauseln) sind entscheidend.
- Unternehmen sollten ein Compliance- und Monitoring-System etablieren, um die Einhaltung der Verkaufsverbote zu dokumentieren.
Empfehlung für Unternehmen und Rechtsabteilungen bei Alleinvertriebsbindung
Unternehmen, die mit Exklusivhändlern oder selektiven Vertriebspartnern arbeiten, sollten umgehend ihre Vertriebsverträge und die praktische Umsetzung auf folgende Punkte hin überprüfen:
- Sind exklusive Gebietszuweisungen und Verkaufsverbote klar definiert und dokumentiert?
- Wurden alle Abnehmer nachweislich über diese Vorgaben informiert?
- Gibt es eine dokumentierte Zustimmung (ausdrücklich oder implizit) aller relevanten Abnehmer?
- Werden Verstöße aktiv überwacht und ggf. sanktioniert?
Fazit: EuGH fordert Nachweis einer echten kartellrechtlichen Vereinbarung
Der EuGH hebt die Beweisanforderungen für Verkaufsverbote im Rahmen exklusiver Vertriebsvereinbarungen deutlich an. Unternehmen, die weiterhin auf ein Alleinvertriebsrecht oder andere Exklusivitäten setzen, müssen jetzt sorgfältiger denn je auf rechtssichere Gestaltung und Dokumentation achten – sonst droht der Verlust der kartellrechtlichen Freistellung und potenziell empfindliche Sanktionen.
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